HOWARD DEUWITT

Meine letzte Erinnerung an sie ist dieser Blick in ihren Augen. Es war ein Blick, der mir sagen sollte: „Alles wird gut, hab keine Angst. Sei stark mein Großer.“ Und doch konnte ich erahnen, welche Kraft ihr dieser letzte Blick abforderte. Welche Kraft diese Frau, meine Mutter, gehabt haben muss, um die Wucht ihrer Angst in das gläserne Gefängnis hinter ihren strahlend grünen Augen einzusperren. Und dann fiel ich – und sie verschwand. Ich landete überraschend weich mit Plastik umrahmten Rettungskissen, die meinen Körper auffingen. Über mir Schreie, zwei Schüsse, Stille. Ich konnte mich nicht rühren, wagte nicht zu atmen. Eine Ewigkeit brauchte nur einen Augenblick, um an mir vorüberzuziehen. Ein beißender Geruch stieg mir in die Nase, eine alles verschlingende Angst in Form von Tränen in die Augen. Aber ich blieb still. Ich wartete auf jemanden, irgendjemanden. Niemand kam. Das spärliche Sonnenlicht, dass diese Gasse ihren Passanten gönnte, verließ mich. Es müssen Stunden gewesen sein, als ich mich endlich dazu durchrang, mich zu bewegen. Als meine Füße den Boden berührten, hörte ich eine Stimme: „Na wen haben wir denn da?“ Es war einer der Männer, der in unserer Wohnung aufgetaucht war. Hinter ihm, im Schatten, stand sein Begleiter. Vor Schreck erstarrt, blieb ich wie angewurzelt stehen. „Alles gut Kleiner, wir bringen dich zu deinen Eltern.“ Mit diesen Worten machten die beiden einen Schritt auf mich zu. Ich schloss die Augen und sah noch einmal den Blick meiner Mutter. Ich sollte stark sein. Nein, ich musste es für sie. Ich riss die Augen auf und schrie die beiden an wie ein wildgewordenes Monster. Ich fauchte, ich brüllte. Die beiden verharrten, sahen sich an und …lachten. Der Vordere zog ein Messer und setzte seine Bewegung fort. Mein Hals schmerzte, mein Kopf brannte. Ich musste stark sein, ich war stark. Und auf einmal fegte ein Wind, eine Wucht durch die Gasse, erfasste erst den einen, dann den anderen Mann. Sie wurden in die Luft geschleudert. Der erste, den die Schwerkraft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbeorderte, schlug mit dem Kopf auf den Asphalt auf und sein Schädel knackte unheimlich und durchdringend. Blut verteilte sich über den Boden. Der zweite hatte weniger Glück und wurde noch in der Luft in Stücke gerissen. Ich hatte aufgehört zu brüllen und doch war alles um mich herum vom Lärm eines Monsters erfüllt. Einen kurzen Augenblick versuchte ich zu verstehen, was gerade passiert war. Da hob mich eine unsichtbare Kraft sanft in die Luft und flog mit mir davon…

So traf ich Elliott zum ersten Mal.

Einen guten Ort für Kinder wie mich – so nannten sie St. Mary’s Children Shelter damals. Der Hunger hatte mich in ihre Arme getrieben und diese feinen Menschen schlossen mich in ihnen ein. Immerhin gab es hier Erwachsene, mit denen ich irgendeine kindliche Hoffnung verband. Hoffnung etwas zu finden, was ich verloren, nein, was mir genommen wurde. In den ersten Tagen fühlte ich mich zu Hause. Bei Mrs. Wilson, der Heimleiterin, erwischte ich mich sogar dabei, in ihr eine mütterliche Figur zu sehen. Dann kam die Arbeit. Jeden Tag erklärten sie uns, dass wir unser Essen und den Platz im Schlafsaal schließlich verdienen mussten. Meine Mitinsassen teilten mein Schicksal und meine anfängliche Hoffnung– genauso wie meine Enttäuschung über die Realität.

Ich wollte nicht hier sein, hatte aber keine Ahnung, wohin ich sonst gehen könnte. Die Eintönigkeit und die Arbeiten, die Regeln und die Bestrafungen, die dem ganzen Prozedere immer und immer wieder folgten. Ich konnte mich dem nicht beugen, ich wollte stark sein. Die Stärke hinterließ Spuren auf meinem Körper. Mrs. Wilson war nie zugegen, wenn die Regeln durchgesetzt wurden, aber sie musste die Schreie der Kinder hören. Sie durchdrangen uns und den Beton. Angst war ihre Macht.

Auch ich hatte Angst. Aber Mrs. Wilson konnte sie nicht verstehen. Ich hatte keine Angst vor Gürteln oder Händen. Ich hatte keine Angst vor den Schmerzen. Ich hatte Angst sie alle zu verletzen. Ich wusste zu was Elliott, zu was wir im Stande waren. Und hier waren zu viele andere Kinder. Ich hatte Angst.

Ich muss ein erbärmliches Bild abgegeben haben, als Frank mich zwischen dem Gerümpel in seinem Hinterhof fand. Für mich war es in den letzten Tagen ein sicherer Ort. Ein scharfer Geruch lag in der Luft und meine Augen waren gereizt. Aber diese Umstände hatten mir eine traurige Exklusivität und Sicherheit bei der Wahl meines Schlafplatzes gegeben.

Der alte Mann nahm sich meiner an und lud mich in sein zu Hause ein. Es fiel mir schwer einem weiteren Erwachsenen zu vertrauen und ich dachte nicht, dass ich lange bei Frank bleiben würde. Aber er bot mir Platz und ließ dem schweigsamen Jungen so viel Raum, wie er benötigte. So kam es, dass ich blieb und mit einer neuen Bezugsperson zu leben lernte. Ich fing an mit ihm zu sprechen und lernte ihn kennen. Frank hatte seine eigene kleine Reinigungsfirma, die ihn – und jetzt wohl auch mich – über Wasser hielt. Er hatte sich auf die Reinigung von Tatorten spezialisiert, was mit einem klaren und erwachsenen Blick auf diese Stadt nicht mal mehr als Nische gelten kann. Doch Frank war älter als es seine Arbeit tolerierte. Er versuchte ich es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich spürte, wie seine Vergangenheit und der Alltag ihn auslaugten. Ich muss mehr zwei Jahre bei Frank verbracht haben. Zumindest hatten wir zwei Mal meinen Geburtstag gefeiert, von dem ich zwar nicht wusste, wann genau er war, aber ich erinnerte mich nur an sonnige und warme Feiern zu meinem Ehrentag.

Frank wurde schwächer und er schaffte es nicht mehr, mit den nötigen Aufträgen schrittzuhalten. So fing ich ungefragt und unbesprochen an, ihm zur Hand zu gehen. Zuerst kümmerte ich mich nur um die Angelegenheiten in der Werkstatt und im Lager. Bald jedoch brach ich Franks stillen Widerstand und begleitete ihn zur Arbeit vor Ort.  Vielleicht war ich zu jung für die Anblicke und Aufgaben, denen ich mich stellte, aber ganz sicher war Frank zu alt. So kämpften wir uns Tag für Tag gemeinsam durch die Überreste der Leben anderer Menschen.

 

Nachts konnte ich Frank husten hören. Es hielt ihn wach und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Eines morgens erwachte ich nach einem tiefen ruhigen Schlaf. Ich erschrak. Ruhiger Schlaf konnte nur eins bedeuten: Frank war ohne mich gegangen. Und so war es. Als sie ihn abholten, sprachen sie mir gut zu. Ein Mann, der sich als Arzt vorstellte, erklärte mir, dass Franks Lunge von den Chemikalien, die er für seine Arbeit benötigte, zerfressen worden war. Die Arbeit, die er für sich und mich nicht aufgeben konnte, hatte ihn mir genommen. Diese Stadt, in der die einen nicht wussten, wohin mit ihrem Reichtum und die anderen sich totarbeiteten, hatte ihn mir genommen.

Ich habe mich manchmal gefragt, warum ich als Kind, orientierungslos wie ich war, in Franks Hinterhof gelandet bin. Wenn ich heute vor der renovierungsbedürftigen Fassade stehe, dann ereilt mich zumindest eine Ahnung, warum mir es zumindest heute so passend erscheint. Franks Haus war das kleinste in dieser Straße. Hineingequetscht zwischen zwei massive Bauten, die es den meiste Zeit des Tages in Schatten hüllten. Es muss trotz dieser Umstände ein ansprechender Anblick gewesen sein, als die Farbe frisch und die Fenster des Ladengeschäfts geputzt waren. Doch genau wie das Viertel, so ging es auch mit dem Erscheinungsbild dieses Hauses bergab. Als Frank starb teilten Sie mir mit, dass er mir alles hinterlassen hatte. Ich war auf seinen Tod nicht vorbereitet und auf diese Verantwortung auch nicht. Ich halte das Haus, auch mit Hilfe von Laurence Geld, in Stand und habe mir die Zimmer zurecht gemacht. Sie sind nicht groß, aber dank Frank kann ich ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad mein Eigen nennen. Die Treppe quietscht und die Tapeten ächzen unter dem Gewicht der vielen Farbschichten. Aber als er mich in seinem Hof fand, da gab mir Frank ein zu Hause und das tut er bis heute.

Eine Besonderheit hat das Haus. Der Keller war so etwas wie Franks Labor. Hier beschäftigte er sich mit seinen chemischen Experimenten – teils aus beruflichen Gründen und teils aus reiner Begeisterung und Neugier. Und damit hatte er den kleinen Jungen, der nun sein Haus mit in Anspruch nahm, angesteckt. Ich hatte von Frank gelernt und hüte diesen Keller wie meinen Drachenhort.

Im Grunde war es immer mein innerer Antrieb diese Stadt besser zu machen. Und es gab etwas, was mir ebenso fehlte wie diesem Dschungel aus Beton und Glas: Farbe. Ich fand Glück gepresst in ein metallenes Gefängnis, dass darauf wartete sich im Nebel auszubreiten. In unbeschwerten Augenblicken ließ ich mich als Künstler bezeichnen, in dunklen versuchte ich die Erinnerungen zu überdecken. Tief in mir wusste ich, dass ich die Fassade ändern und der Stadt Tätowierungen verpassen, aber mich nicht dem darunterliegenden Übel stellen konnte. Wie eine Mischkugel ließ ich mich einfach hin und her werfen, stieß an den Grenzen meiner Welt unsanft an und wusste, dass ohne die Farbe alles enden würde. So verbrachte ich die Nächte. Auf der Jagd nach freiem Raum, auf der Flucht vor Unverständnis.

Laurence Hammond ist eine Ikone dieser Stadt. Ihn eine Lichtgestalt zu nennen, kommt der Realität auf amüsante Weise nah. Seine Firma „Hammond Industries“ zeichnet für einen Großteil der Energieversorgung aller Bürger verantwortlich. Dieser Umstand hat ihn zu einem der reichsten Männer des Planeten gemacht. Aber nicht nur dieser Aspekt wirft einen hellen Schein auf sein Wirken. Auch sein Einsatz für Kunst und Kultur in der Stadt ist legendär. Unbegrenzte finanzielle Mittel und unbegrenzte Begeisterung für alles Kreative bilden eine perfekte Symbiose für das öffentliche Bild von Hammond. Der wahre Wert seines Vermögens bleibt sein Geheimnis. Das gleiche gilt für die Unfehlbarkeit seines Auges für junge Künstler, die er als Mentor, Mäzen und Vaterfigur begleitet.

Laurence Hammond großes Talent war es, seine Begeisterung auf andere Leute zu übertragen. Er hatte sein Imperium von seinem Vater geerbt, aber sicher nicht dessen zwischenmenschliche Kälte und wirtschaftliche Rationalität.

Wir standen in seinem Büro, zu dessen Füßen die Stadt kniete und beobachteten durch das riesige Panoramafenster das Monster, das seiner Firma einen Großteil seiner Lebenskraft verdankte. Er schwieg. Ich hatte das Gefühl, er genoss die Ruhe. Ein seltenes Geschenk, das er sich nun selbst machte und mit mir teilen wollte. Er wusste wohl, dass wir beide nicht viel davon hatten in unserem Leben, wenn auch aus verschiedenen Gründen.

Aus dem Augenwinkel sah ich ihn an. Seine Augen strahlten weiterhin eine jugendliche Leichtigkeit aus, die man bei Menschen in seinem Alter, seiner Verantwortung und seinem finanziellen Status eigentlich ausschloss. Graue Haare durchzogen seine akkurat geschnittene Frisur. Es verlieh im noch mehr Würde und Erhabenheit als all die sündhaft teuren Anzüge, ohne die ich ihn mir nicht mal vorstellen konnte. Alles an seinem Körper war optimiert. Jede Naht, wo sie sein sollte, jeder Muskel optimal ausgebildet und nie übertrieben oder zur Selbstdarstellung aufgepumpt. Ich denke, das ist was er gelernt hat. Er war ein Hammond. Er hatte besser zu sein.

„Wie war dein Tag?“ Ich zuckte unmerklich zusammen, als seine Frage die Ruhe durchbrach. Meine Welt kehrte zurück. Er schaute mich an, ein Lächeln und ehrliches Interesse begegneten mir. Er interessierte sich tatsächlich. Ich fühlte mich gut damit. Ich hasste es. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte mich nicht an so etwas gewöhnen. Das war zu hoch für mich. Ich sollte meine Schuld begleichen und dann könnten wir aufhören, dieses Spiel zu spielen. Ich wusste, was ich getan hatte und dass ich es wieder gut machen musste, aber warum das hier? Meine Gedanken rebellierten und ich fragte mich, warum er nicht einfach nahm, sondern mir so viel gab. Es war endlich, da war ich mir sicher. Oder?

Wie lange hatte meine schweigende Antwort gedauert? Sein Lächeln ruhte weiter auf mir. „Lass uns was essen,“ sagte er mit einem amüsierten Ton, der die Situation in eine positive Richtung wendete. Ich nickte und verlor den Kampf gegen meine Mundwinkel, die höher hinauswollten, als ich es für richtig hielt.